Case Study
Agile Produktentwicklung in der Medizinindustrie – ein Beispiel
Lassen sich die Begriffe Medizinprodukte, reguliertes Umfeld und agile Entwicklungsmethoden miteinander vereinen, noch dazu in einer bislang sehr klassisch aufgestellten Konzernumgebung?
Die intuitive Reaktion vieler Gefragter ist vermutlich ein klares Nein oder zumindest ein zweifelnder Gesichtsausdruck.
Die Roche Diabetes Care hat sich Ende 2017 dieser Herausforderung gestellt und inzwischen ein individuelles SCRUM Skalierungsmodell implementiert.
Die Ausgangssituation
Ende 2017 startete Roche Diabetes Care die Entwicklung eines innovativen Produktes, welches das Cash Cow Marktsegment der Blutzuckermessung revolutioniert. Die Fragestellung lautete: Wie lassen sich neue, bislang unbearbeitete Marktsegmente erschließen und gleichzeitig die Blutzuckermessung digitalisieren?
Der hohe Neuheitsgrad des Marktes als auch der Technologie veranlasste Roche Diabetes Care dazu, auch im Projekt-Setup neue Wege zu beschreiten und ein agiles R&D-Pilotprojekt mit der SCRUM Methodik aufzusetzen. Nur so war es denkbar, die besonderen Herausforderungen trotz der etablierten klassischen Entwicklungsprozesse und Organisationsstrukturen anzugehen. Kurze Iterationszyklen und schnelle Entscheidungen über das weitere Vorgehen sollten schnell zu neuen Erkenntnissen führen und den ersten Produktlaunch innerhalb der kurzen Projektlaufzeit ermöglichen. Unterstützung holte sich Roche dafür von einem Netzwerk externer Coaches.
Dieser erste Testballon half dem Unternehmen dabei, Erfahrungen mit agilen Organisationsansätzen zu sammeln und mehr über die eigenen Hürden und Bedürfnisse zu lernen. Unter anderem hatte Roche Diabetes Care mit langen Entscheidungswegen, organisatorischen Hürden und einer überregulierenden Prozesslandschaft zu kämpfen. Nach dem Launch eines Minimal Viable Products (MVP) Ende 2018 waren die Weichen gestellt und Roche Diabetes Care entschloss sich, auch weitere Entwicklungsprojekte im agilen Setup zu starten.
Das Skalierungsmodell
Als sich Roche Diabetes Care entschloss, größere Produktentwicklungen mit mehr als einem einzelnen Development Team aufzusetzen, bestand der Bedarf nach einem passenden Rahmenwerk für die erforderliche Skalierung. Dadurch soll die übergeordnete Steuerung, Priorisierung und Ressourcenverteilung in der Gesamtentwicklung besser gemanaget werden. Zusammen mit den bereits etablierten Beratern wurden in mehreren Workshops unterschiedliche bereits bekannte Skalierungs-Rahmenwerke intensiv analysiert und mittels Roche-spezifischer Anforderungen bewertet. Als Resultat entschied man sich für das Scaled Agile Framework (SAFe®) an dem jedoch geringfügige Anpassungen durchgeführt wurden.
Die Umsetzung
Eine Mitte 2017 in Pilotmärkten gelaunchte,innovative Micro Insulin Pumpe wurde bislang in ihren Komponenten im klassischen linearen Wasserfallmodell von einer Vielzahl unabhängiger Projektteams weiterentwickelt. Unterschiedliche Budgets, Projektleiter und Management Oversight Bodies verkomplizierten die gemeinsame Projektarbeit spürbar. Es mangelte an Transparenz und übergeordnet abgestimmten Prioritäten. Zusätzlich waren Mitarbeiter mehreren Projekten gleichzeitig zugeordnet, was zu Effizienzverlusten durch Multi-Tasking und fehlendem Fokus führte. Gleichzeitig handelt es sich um ein komplexes Medizinprodukt der Klasse 2a, mit einer wenig fehlertoleranten Mechanik, Elektronik und embedded Firmware in einem hoch kompetitiven Marktumfeld.
Wie stellt man ein so komplexes, bereits gestartetes Projekt mit mehreren unabhängigen Projektteams im laufenden Entwicklungsprozess auf eine gänzlich neue Methodik um?
Um eine gemeinsame Knowhow Basis zu schaffen, investierte Roche Diabetes Careüber einen Zeitraum von 3,5 Monate in intensive Trainings der zukünftigen Teams (ca. 50 Mitarbeiter) innerhalb des Programms. Dabei wurden sowohl inhouse Basisschulungen zum Verständnis agiler Arbeitsweisen, Trainings innerhalb des Skalierungsmodells SAFe, sowie spezielle Trainings für die agile Entwicklung von Hardware Komponenten und die Erfüllung regulatorischer Anforderungen bei der iterativen Entwicklung(nach AAMI TIR 45)durchgeführt. Darüber hinaus absolvierten potentielle Kandidaten für die Scrum Master-, Product Owner-und Architekten-Rollen spezielle Trainings und Weiterbildungen. Während des gesamten Projekt-Setups wurde das Management intensiv in die Entscheidungen über die Gesamtorganisation, die neuen Rollen, Besetzungen und Prozesse einbezogen.An den Voraussetzungen, wie die Festsetzung der Sprint-und Inkrementlängen, der Definitions of Done in den Teams, entsprechend den Anforderungen und Deliverables des internen Qualitätsmanagementsystems, wurde vor dem offiziellen Go-Live der agilen Organisation gearbeitet.
Der Status Quo
Die Herausforderungen der Umstellung zeigen sich besonders in der Zusammenarbeit mit anderen Unternehmensbereichen, die noch sehr klassisch im linearen Entwicklungsmodell aufgestellt sind. Besonders das interne Qualitätsmanagementsystem schreibt viele lineare Entwicklungsschritte vor, welche ein inkrementelles Entwickeln deutlich erschweren. Viele Medizintechnikunternehmen haben sich selbst überreguliert, indem sie lineare Modelle implementierten, welche in dieser Form nicht von Behörden gefordert werden. Die Zulassungsstellen erwarten eine lückenlose Dokumentation zum Medizinprodukt, machen allerdings keine Aussage über die anzuwendende Entwicklungsmethode, also die Art und Weise, wie diese Dokumentation entsteht.
Wie bei jeder agilen Transformation bedarf es einiger Zeit, um den Verantwortungsübertrag vom Management in die Teams, im speziellen in die Rolle des Product Owners, zu erreichen. Dabei stehen die neuen Product Owner auch der Aufgabe gegenüber, komplexe Backlogstrukturen zu pflegen und in permanenter Abstimmung mit Stakeholdern zu priorisieren. Besonders mangelnde Skills bezüglich dieser neuen Rolle sowie zu wenig dafür reservierte Zeit können anfangs ein Problem darstellen. Während dieser persönlichen Entwicklung ist ein begleitendes Coaching der Rolle notwendig. Auch die alleinige Zuordnung der Mitarbeiter zu einem Development Team ist noch nicht in allen Fällen geglückt. Weiterhin sehen sich die ersten agilen Programme immer mit den Herausforderungen konfrontiert, welche durch die Zusammenarbeit mit der noch klassischen Konzernumgebung entstehen. Deshalb müssen umliegende Bereiche intensiv eingebunden und mitgenommen werden, auch wenn sie noch nicht in die agile Arbeitsweise integriert worden sind.
Nichtsdestotrotz haben sich die Teams sehr schnell gefunden und gewinnen durch den Fokus und klare Prioritäten deutlich an Geschwindigkeit. Die hohe Transparenz innerhalb der Organisation wird besonders von den Stakeholdern als hoher Mehrwert betrachtet. Darüber hinaus schätzen sowohl Stakeholder als auch Projektmitglieder die kurzen und regelmäßigen Feedbackzyklen und Eigenverantwortung der Development Teams.
Bei all den noch bestehenden Herausforderungen sind die Ergebnisse, gemessen an der Implementierungszeit, herausragend und sehr zufriedenstellend. Besonders die Entwicklung von Teamdynamik, Teamgeist und Motivation innerhalb des Programms sind beeindruckend. Die mit der Umstellung und Verfestigung der Arbeitsweise einhergehende höhere Motivation der Mitarbeiter lässt sich direkt an einer höheren Teamproduktivität messen. Besonders das Erleben von Selbstorganisation,mehr Entscheidungsfreiheit, Annehmen von Eigenverantwortung, Transparenz über Erfolge, Hindernisse und Fortschritte, sowie der direkte Bezug der eigenen Tätigkeit zum “Big Picture” führen bei vielen Mitarbeitern zu einer deutlich höheren Zufriedenheit.
Die Erfolgsfaktoren
Don’t do this at home! In einem ersten Ansatz hat Roche Diabetes Care bereits vor Ende 2017 eigene Schritte in Richtung einer agilen Arbeitsweise in der Softwareentwicklung selbst unternommen und endete mit einem SCRUM-Wasserfall-Hybridmodell, welches die Nachteile beider Welten vereinte und entsprechend wenig Benefits und Akzeptanz in der Organisation generierte. Eine kompetente Begleitung hinsichtlich des Setups und die konsequente Unterstützung während der Implementierung durch erfahrene Coaches sind ein wesentlicher Erfolgsfaktor. Roche Diabetes Care war es dabei besonders wichtig, Knowhow für alle benötigten Unternehmensbereiche an Board zu haben und startete mit einem Netzwerk erfahrener Coaches, welche alle Experten auf ihrem Gebiet sind¹. Dies ergab eine unique Kombination aus Hardware-, Medical Device Regulations-, Software-und Changemanagement-Knowhow. Dieses Netzwerk nimmt dabei eine 360° Perspektive ein und befähigt sich gegenseitig, indem es auf einer engen inhaltlichen und methodischen Abstimmung aufbaut.
Während der Implementierungsphase ist das intensive Coaching der Teams unumgänglich. Nur, wenn alle Mitwirkenden zu Beteiligten und gleichzeitig zu Multiplikatoren des neuen Setups und Mindsets werden, ist eine so große Veränderung in kurzer Zeit zu erreichen. Gleichzeitig wird die Organisation über ein separates Transition Team, welches den Change Prozess begleitet, mitgenommen. Das A und O hierbei ist die entsprechende Managementunterstützung. Mangelnder Support seitens der Führungskräfte rangiert, gemeinsam mit fehlender Methodenkenntnis und der Missachtung agiler Werte, an der Spitze der Gründe für agile Misserfolge.
Fazit
Agile Entwicklungsmethoden im stark regulierten Umfeld sind möglich, auch im Bereich der Hardwareentwicklung. Dabei sollte man sich der Herausforderungen bewusst sein, um einige Stolpersteine im Vorfeld identifizieren zu können. Eine wirkliche agile Transition schließt dabei auch immer einen Kulturwandel innerhalb der Organisation ein, welcher weit über die rein technische Einführung einer Methodik hinausgeht. Jeder Wandel des Verhaltens benötigt Zeit und die Möglichkeit, ausprobiert, akzeptiert und für gut befunden zu werden. Diese Zeit sollte man sich nehmen und den Mitarbeitern zugestehen.
Trotz aller Erfolge zeigen sich aber auch Hindernisse wie zum Beispiel, dass agile und klassisch geführte Projekte parallel laufen, oder die Bereiche außerhalb von Entwicklung und Produktmanagement noch in ihrem etablierten Modus arbeiten und dort teilweise das Verständnis der Veränderung fehlt und der Umstand, dass die Prozesse noch nicht vollständig auf die agile Arbeitsweisen angepasst werden konnten. Hier besteht im Unternehmen Nachholbedarf.
Die Erfahrung aus diesem laufenden Projekt zeigt aber, dass mit Menschen, die bereit sind, sich auf Neues einzulassen, neue Wege zu gehen, Dinge kritisch zu hinterfragen, sich selbst zu organisieren und echte Verantwortung zu übernehmen, erfolgreiche Transitionen tatsächlich möglich sind. Roche Diabetes Care befindet sich dabei auf einem sehr guten und vielversprechenden Weg.
¹ Teil des Netzwerks waren Berater der Comeno GmbH, parsQube GmbH, Agil Q uality Systems LLC sowie AGILEUS Consulting GmbH & Co. KG.