Case Study
Agile Produktentwicklung in der Automobilindustrie – ein Beispiel
Abstract
Die Antwort darauf lag in einem crossfunktional besetzten Team und einer für das Unternehmen MAN neuartigen Arbeitsweise: Scrum. Durch die konsequente Etablierung des agilen Rahmenwerks konnte in kurzer Zeit ein zu 100% dediziertes Entwicklungsteam inklusive Scrum Master und Product Owner aufgebaut werden.
Der Erfolg des Teams ist inzwischen greifbar: Innerhalb der geplanten 18 Monate wurden zwei TÜV-zugelassene Fahrzeuge gebaut, welche auf der IAA Nutzfahrzeuge im September 2018 neue Maßstäbe bezüglich Sicherheit, Fahrerkomfort und Antriebstechnik demonstrieren konnten. Darüber hinaus ist ein hocheffizientes und motiviertes Team entstanden, welches den agilen Gedanken lebt und weiterträgt.
Fragt man das Team nach den entscheidenden Erfolgsfaktoren, werden vor allem folgende Punkte genannt: die 100%ige Verfügbarkeit der Teammitglieder und deren räumliche Co-Location, die tägliche Abstimmung mit den Kollegen in der Werkstatt, der volle Support und die regelmäßige und pragmatische Einbindung der Stakeholder, sowie die Transparenz und Kommunikation in die angrenzenden Bereiche. Doch an erster Stelle steht die Offenheit und der Mut, etwas Neues auszuprobieren.
Die Strahlkraft des Projektes in das Unternehmen ist unübersehbar. MAN lebt zukunftsorientiert die Umsetzung innovativer Ideen durch agile Methoden.
Innerhalb der geplanten 18 Monate wurden zwei TÜV-zugelassene Fahrzeuge gebau.
Schnittstellenfunktionen wie die Einkaufsabteilung und die Montage wurden in das Team integriert und probierten ebenfalls neue Wege aus. So wurde der Prozess zur Suche und Einbindung externer Entwicklungsdienstleister statt in den regulären sechs Monaten in nur sechs Wochen durchgeführt. Die direkte Kommunikation mit den Kollegen in der Montage zeigte potenzielle Fehler frühzeitig auf und Optimierungen konnten unmittelbar in den laufenden Entwicklungsprozess einfließen. Sowohl die Zahl der versandten E-Mails als auch die resultierenden Wartezeiten reduzierten sich auf ein Minimum.
Die Ausgangssituation
Ende 2016 erteilte die MAN Truck & Bus den Projektauftrag, auf der nächsten IAA für Nutzfahrzeuge im September 2018 ein zugelassenes Konzeptfahrzeug mit einzigartigen Nutzungseigenschaften zu präsentieren. Zielsetzung war es, ein konsequent auf den urbanen Verteilerverkehr ausgelegtes Fahrzeug zu entwickeln – mit neuen Maßstäben im Hinblick auf Sicherheit, Fahrkomfort und emissionsfreie Mobilität.
Zu diesem Zeitpunkt war den Entscheidern bewusst, dass vor allem die kurze Projektlaufzeit eine besondere Herausforderung darstellt, welche nicht innerhalb der etablierten Standard-Prozesse und Organisationsstrukturen zu bewältigen ist. Um dieser Aufgabe begegnen zu können, entschied sich MAN für die Einführung der Scrum Methodik im Rahmen eines agilen R&D-Pilotprojekts, unterstützt durch externe Coaches. Die typischerweise kurzen Iterationen und Feedbackschleifen sollten schneller Wert schaffen und Ergebnisse sichtbar machen.
In sehr kurzer Zeit wurden durch ein MAN-internes Team zunächst die Produktvision sowie die Alleinstellungsmerkmale, etwa ein anwendungsoptimales Sichtfeld des Fahrers zur Unfallvermeidung, ein ergonomischer Ein-/Ausstieg zur Reduzierung der körperlichen Belastung des Fahrers und eine nutzerorientierte Arbeitsplatzergonomie, definiert.
Durchführung
Zu Projektbeginn fand eine Schulung des gesamten internen Teams in den Grundlagen von Scrum (Rollen, Events und Artefakte) statt. Anschließend wurden die Rollen im Team besetzt, ein initiales Product Backlog erarbeitet und anhand von Working Agreements die Scrum Regeltermine festgelegt. Dementsprechend konnte das Team schon nach einer Woche mit der agilen Arbeitsweise starten.
Die Schulung wurde von externen Scrum Coaches durchgeführt. Diese übernahmen mit einer 100%igen Präsenz die Rolle des Scrum Masters, um so den MAN-internen Scrum Master optimal zu befähigen.
Die Coaches drängten von Beginn an auf eine 100%ige Freistellung der Scrum Teammitglieder für dieses Projekt und forderten eine Co-Location des gesamten Teams. Hierfür bedurfte es auch des Commitments der Führungskräfte und Kollegen der Teammitglieder in ihren normalen Linienfunktionen.
Eine wegweisende Entscheidung stellte die Besetzung der Product Owner Rolle dar.
Darüber hinaus wurde explizit auf die Bedeutung von Commitment und Support seitens der Stakeholder (inkl. Top Management) hingewiesen. Eine wegweisende Entscheidung stellte die Besetzung der Product Owner Rolle dar, die initial durch einen Vertreter des Managements wahrgenommen werden sollte. Um der Vollzeitverantwortung dieser Rolle gerecht werden zu können, fiel die Wahl stattdessen auf ein Teammitglied, welches vom Management mit der entsprechend notwendigen Entscheidungsbefugnis ausgestattet wurde.
Die Themen Reporting und Entscheidungsfindung bildeten einen weiteren wichtigen Punkt. Gerade mit Blick auf die kurze Projektlaufzeit war es wichtig, Entscheidungsprozesse innerhalb der etablierten Gremienstrukturen effizient zu gestalten. Das Scrum Team und die Stakeholder verständigten sich darauf, Projektfortschritte pragmatisch aufbereitet nur im Review (ein dediziertes Event in Scrum zum Einholen von Stakeholder-Feedback) zu kommunizieren und dort auch die notwendigen Entscheidungen zu treffen. Direktes Feedback und sehr kurze Entscheidungswege trugen maßgeblich zum Projekterfolg bei.
Bei der Auswahl und dem Onboarding des Entwicklungsdienstleisters probierte MAN ebenfalls eine agile Vorgehensweise aus. Der in den klassischen Projekten angewendete Beschaffungsprozess hätte mit einer durchschnittlichen Dauer von sechs Monaten ein Drittel der geplanten Gesamtprojektlaufzeit beansprucht. Durch konsequentes Anwenden von Lean Prinzipien, wie z.B. alle Entscheider in einem Raum oder im zeitnahen Zugriff zu haben, konnte die gesamte Prozesslaufzeit einschließlich der notwendigen Gremienentscheidungen und Vorstandsgenehmigung auf sechs Wochen verkürzt und die zeitlichen Projektvorgaben eingehalten werden.
Durch konsequentes Anwenden von Lean Prinzipien konnte die gesamte Prozesslaufzeitauf sechs Wochen verkürzt und die zeitlichen Projektvorgaben eingehalten werden.
Aufgrund der agilen Form der Zusammenarbeit war es nötig, auch in der Einbindung von Dienstleistern neue Wege zu gehen. Der Dienstleister wurde beispielsweise im Rahmen der Sprintplanung mit Arbeitspaketen im Umfang der Sprintlaufzeit von einer Woche direkt aus SAP heraus beauftragt und damit sehr direkt und kurz getaktet gesteuert.
Das komplette MAN Team und eine Auswahl von Mitarbeitern des Dienstleisters investierten fünf volle Tage zum Kennenlernen, inklusive einer gemeinsamen Scrum Schulung und einer Simulation der Sprints. Dieser frühzeitige Fokus auf ein gemeinsames Verständnis beschleunigte die anschließende Zusammenarbeit und bildete die Grundlage für eine schnelle Konzeptentwicklung und -entscheidung.
Die Synchronisation mit dem etablierten Produktentwicklungsprozess (PEP) bei MAN erfolgte in drei Schritten: Anpassung auf die geplante Produktionsstückzahl, Verschlanken der Anforderungen, Anpassung auf die agile Arbeitsweise. Dies passierte in enger Abstimmung mit allen am Prozess beteiligten Bereichen und dem Prozess Owner.
Mit dem Beginn des Fahrzeugbaus machten alle Beteiligten ihre Aufgaben und Störungen auf einem Kanban-Board transparent.
Nach Abschluss der Detailentwicklung wurde mit der Beschaffung der Teile begonnen und die Montage der Fahrzeuge gestartet. Zeitgleich begeisterten sich die Mitarbeiter in der Montage für die agile Vorgehensweise. Mit dem Beginn des Fahrzeugbaus machten alle Beteiligten ihre Aufgaben (Tasks) und Störungen (Impediments) auf einem Kanban-Board transparent. Zahlreiche Emails wurden durch tägliche persönliche Abstimmungen zwischen den Monteuren und den Entwicklern direkt am Fahrzeug ersetzt, wodurch Störungen in kürzester Zeit beseitigt werden konnten.
Das Gesamtprojekt war in vielerlei Hinsicht ein voller Erfolg. Der ursprüngliche Projektauftrag wurde komplett erfüllt. Das vom TÜV zugelassene Fahrzeug konnte in 18 Monaten mit den vereinbarten Alleinstellungsmerkmalen fertiggestellt werden und wurde im September auf der IAA Nutzfahrzeuge 2018 vorgestellt. Die Vorteile der agilen Vorgehensweise in einem Innovationsprojekt innerhalb der MAN konnten eindrucksvoll nachgewiesen werden.
m Zuge der Projektlaufzeit ist ein hoch motiviertes und erfahrenes Scrum Team entstanden, welches „Ownership” für sein Produkt übernommen hat. Solch ein Team ist ein Wert an sich, welchen es über das Projekt hinaus für zukünftige Themen zu erhalten gilt. Freiwillige Einsätze über die Regelarbeitszeit hinaus, um wichtige Etappenziele zu erreichen, sind nur ein Zeichen der außergewöhnlichen Teammotivation. Die Scrum Maxime „ein Team, ein Ziel” lässt sich hier eindrucksvoll wiederfinden. Sogar privat ist das Team zusammengewachsen und trifft sich regelmäßig zu persönlichen und sportlichen Aktivitäten.
Die Scrum Maxime "ein Team, ein Ziel" lässt sich hier eindrucksvoll wiederfinden.
Spätestens mit Beginn der Fahrzeugmontage wurden immer mehr Mitarbeiter in die Produktentwicklung involviert, wodurch der „agile Funke” auch auf diese Kollegen übergesprungen ist. Diese Kombination des persönlichen Erlebens der agilen Arbeitsweise und des enormen Projekterfolges führt zu einer massiven Strahlkraft in das ganze Unternehmen hinein.
Fazit
Zusammenfassend ist festzustellen, dass ohne echtes Commitment und die Unterstützung der Stakeholder, ohne 100%ige Verfügbarkeit der Teammitglieder und dem damit einhergehenden Fokus auf eine Aufgabe, ohne Co-Lokation der Teams sowie kurzer Wege und einer direkten Kommunikation ein derart komplexes Projekt in solch kurzer Zeit nicht realisierbar wäre.
Die Erfahrung aus diesem Projekt zeigt, dass mit Menschen, die sich darauf einlassen können und wollen, neue Wege zu gehen, Dinge kritisch zu hinterfragen, sich selbst zu organisieren und echte Verantwortung zu übernehmen, solche Erfolge tatsächlich möglich sind. Unterstützt und befähigt durch ein entsprechend überzeugtes Management ist es sogar möglich, einen innovativen LKW in einer Projektlaufzeit von 1,5 Jahren zu bauen.